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Post Corona (2/2)

Nun habe ich vor einiger Zeit angekündigt, einen weiteren Beitrag zum Buch „Post Corona“ von Scott Galloway zu schreiben. Der Grund, warum ich dies bisher nicht getan habe ist folgender: Im zweiten Teil seines Buches geht Galloway auf die Zukunft der Hochschullehre und des Bildungswesens allgemein ein. Laut seiner Aussage ist es ein Bereich, der danach schreit, disruptiert (hat jemand ein besseres Wort?) zu werden. Seine Argumente: Es besteht mehr Nachfrage als Angebot (Hochschulen lehnen regelmäßig durch den Numerus Clausus potenzielle Studierende ab), die Kosten für ein Studium sind in den vergangenen Dekaden stark gestiegen (wobei er hier allerdings nur auf das Bildungssystem in den USA verweist) und es werden eben die digitalen Möglichkeiten der Skalierbarkeit nicht genutzt (YouTube-Videos müssen nur einmalig aufgenommen werden). Das alles ist irgendwie dann auch richtig, aber er findet meiner Meinung nach keine richtige Antwort darauf und schreibt dann sinngemäß: Man muss in Zoom-Meetings zur Interaktion anregen. Okay. Das war mir dann zu uninspiriert – obgleich ich das Buch und den Menschen als Visionär sehr schätze, insbesondere hinsichtlich seiner Sicht auf die GAFAs. Ich habe dann länger darüber nachgedacht und auch im Rahmen des internen Austausches in unserer Hochschule hier nun einen Entwurf von dem verfasst, was ich im Bildungswesen in der Zukunft sehe und wo wir uns hin entwickeln können.

Die Ausgangslage Post-Corona
Die Coronapandemie hat in Bezug auf ein Hochschulstudium zwei zentrale Dinge deutlich gezeigt. Erstens wurde die digitale Lehre salonfähig. Es bestehen keine Berührungsängste mehr vor Webkonferenzen, der Produktion und Rezeption von Lernvideos, der Kommunikation durch unterschiedliche synchrone und asynchrone Kommunikationsmöglichkeiten usw. Kurz: Die digitale Vermittlung von Wissen ist im vergangenen Jahr zur Selbstverständlichkeit geworden. Dies führt dazu, dass sobald eine rein analoge Präsenzlehre wieder möglich wäre, diese mit hoher Wahrscheinlichkeit vielerorts durch digitale Elemente ergänzt werden wird. Sogenannte hybride Lehrformate werden propagiert und sind in aller Munde, ohne dass jedoch meist klar ist, wie diese überhaupt aussehen soll und welche digitalen und analogen Lehr-/Lernelemente miteinander und wann kombiniert werden sollten. Zweitens zeigt sich einmal mehr, dass wir in einer volatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten Welt leben – der sogenannten VUKA-Welt. War es durch die Digitalisierung bereits vorab deutlich, dass die Halbwertzeit von Wissen radikal abgenommen hat und der Fokus auf eine kompetenzorientierte Lehre unter anderem auch deshalb schon lange propagiert wurde, so ist dies nun eine absolute Notwendigkeit: Studierende starten in ihr Studium und die Anforderungen an ihr Berufsbild können sich durch externe Einflüsse und Entwicklungen binnen weniger Jahre ändern. Diese Flexibilität sollte ein Studium widerspiegeln und den Studierenden eine individuelle Entwicklung und Persönlichkeitsbildung mit stets aktuell angeeignetem Wissen ermöglichen.

Unsere Rolle als Lehrende heute und in Zukunft
Es bedarf hierfür eines veränderten Rollenverständnisses von Lehrkräften. Die reine Wissensvermittlung sollte nicht mehr vordergründig das sein, was eine Lehrkraft auszeichnet. Inhalte können heute vergleichsweise leicht aufgezeichnet werden, sind damit konserviert und stehen allen Studierenden verschiedener Kohorten für lange Zeit zur Verfügung. Die Aktualisierung des Wissens nimmt dann einen deutlich kleineren Teil der Arbeitszeit ein. Gerade in Grundlagenveranstaltungen mit geringen Änderungen ist dies offenkundig.

Die Aufgabe der Lehrperson kann es nun aber sein, die neu zur Verfügung stehenden Ressourcen so einzusetzen, dass die bestehenden Inhalte auf die Vorlieben, Stärken sowie beruflichen Ziele des/der Studierenden ausgerichtet werden können. Den Lehrkräften kommt somit eine Coaching- und Mentoringfunktion zu. Sie sind Navigator in einer unübersichtlich gewordenen Welt, in der Wissen omnipräsent und in schier unfassbarer Breite und Menge verfügbar ist. Lehrende können auf Basis ihrer Erfahrung Hinweise zu Vertiefungen geben, Lücken im Wissen und in den Kompetenzen der Studierenden erkennen und ihnen diese mitteilen. Individuelle Gespräche sollten dazu führen, dass gemeinsam mit den Studierenden erkannt und gefördert wird, in welche Richtung sie sich entwickeln können. So wird ein zielgerichtetes und individuelles Lernen ermöglicht.

Lehrkräfte sind damit neben einer individuellen Ansprechperson auch Kuratoren. Sie sind das Bottleneck, das Wissen filtert und somit deren Qualität sicherstellt. Sei es durch eigene Videos und weitere Lehrmaterialien, oder durch fremde Kurse, die dann geprüft und für die Studierenden individuell ausgewählt werden.

Ein individual Learning Cycle als Vision
Es ist offenkundig, dass dies in ein stark individualisiertes Lernumfeld mündet. Diese erforderliche Flexibilität wird durch die Chancen, die eine digitale Lehre bietet, überhaupt erst möglich. Jede/r Studierende hat ein individuelles Lerntempo und entwickelt sich in Abhängigkeit zur beruflichen Einbindung und setzt noch dazu aufgrund von eigenen Vorlieben unterschiedliche Schwerpunkte, die sich im Verlauf des Studiums auch noch ändern können. Diese hohe Diversität kann über ein integratives Konzept, welches die Stärken sowohl der analogen als auch der digitalen Lehre berücksichtigt und aufgefangen werden.

Wir stehen am Anfang einer sehr spannenden Entwicklung. Ich denke, dass wir hier in den kommenden Semestern, wenn auch wieder Präsenzphasen möglich werden, vielfältige Konzepte, Ansätze und Projekte in diese Richtung sehen werden. Ich bin sehr froh, an einer solchen Entwicklung teilhaben zu können!

Foto: Gerd Altmann via Pixabay

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